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Ein Volk, ein Reich, ein Rausch – Über Drogen im Dritten Reich

Das aufwendig recherchierte Sachbuch von Norman Ohler "Der totale Rausch", kann den interessierten Leser durchaus ein wenig süchtig machen. Fast wie in einem spannenden Krimi, führt uns der Autor detailreich durch das "Breaking Bad" der damaligen Reichshauptstadt.

Er berichtet von den beliebten Rauschgiften und der Drogenszene Deutschlands in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Opiate wie Morphin und Heroin waren damals schon seit der Jahrhundertwende in professioneller Produktion und Verkehr, ebenso Kokain, das zeitweilig sogar in Erfrischungsgetränken seinen Platz fand.

Wir lesen, wie die aufstrebende chemische Industrie mit Hilfe dienstbarer Wissenschaftler zu Beginn der NS-Zeit sehr kreative Wege einschlug und in Folge ein ganzes Volk freizügig und mit großem Werbeaufwand mit psychoaktiven "Stärkungspillen" dopte.

Ähnlich wie der Protagonist aus der US-amerikanischen Serie, Walter White alias "Heisenberg" (ein deutsches Pseudonym, welch ein interessanter Zufall), machte sich ein Chefchemiker der Firma Temmler daran, ein möglichst effektives Herstellungsverfahren für Methamphetamin zu entwickeln, was ihm schließlich 1937 erfolgreich gelang. Auf diese Weise fand das nun germanisch synthetisierte Crystal Meth unter dem Produktnamen "Pervitin" als Wohlfühlmittel in Form von "Hausfrauenpralinen" oder als "Weckamin" für Kampfeinsätze, einen grandiosen Einzug in den ach so reinen deutschen Volkskörper.

Wir erfahren, welche Rolle Pervitin beim Blitzkrieg gespielt hat und dass dem Siegesrausch anfangs wohl auch immer ein Drogenrausch vorangegangen ist. Aber im Laufe der Zeit wendete sich das Blatt glücklicherweise und – nicht nur im biochemischen Sinne – richteten sich die Folgen der Exzesse letztendlich und unaufhaltsam gegen ihre Verursacher.

Ein weiterer und sehr spannender Teil in Ohlers Buch ist das Portrait von Hitlers Leibarzt, Theo Morell, einem ehemaligen Schiffarzt und späteren Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, der Anfang der Dreißiger Jahre am Berliner Kurfürstendamm seine Praxis als eine Art diskreter "Wellness-Doktor" mit Vitamin-Spritzen und Frischzellen-Kuren für die betuchte Gesellschaft führte. Ab 1936 hatte Dr. Morell nun sich ständig um "Patient A." zu kümmern und war ihm bis zum Kriegsende 1945 zu jeder Tages- und Nachtzeit als Leibarzt verpflichtet.

Durch die vielen Aufzeichnungen auf den Patientenkarten und anderen Dokumenten, bekommt der Leser einen intimen Einblick in die wahnhafte Persönlichkeit Hitlers und in seinem inneren Zirkel. Detailliert erfahren wir auch hier sehr viel über die medizinischen Aspekte und welche aberwitzigen Präparate in noch aberwitzigeren Dosierungen von Morell seinem Patienten A. massenhaft verabreicht wurden. Anfangs so genannte "Kraftspritzen" mit Vitaminen und Glucose, später folgten Injektionen mit Hormondrüsenextrakten von Schlachttieren und dann immer wieder und immer häufiger harte Drogen wie „Eukadol“, ein Heroin-ähnliches Präparat mit einem sehr starken Suchtpotential.

Der psychologischen Abhängigkeit folgte schon bald eine substanzbezogene; einmal angefixt, gab es kein Zurück mehr, die Neuronen des Führers wollten mehr und mehr. Der Junkie und sein Dealer. Genauso entwickelt sich dann bis Kriegsende die Beziehung zwischen Patient A. und Morell: Die ohnehin schon stark psychopathische und monströse Persönlichkeit Hitlers wurde noch wahnhafter durch die drogenhaltige Medikation Morells.

So lange wie der Leibdealer den obersten Junkie im Reich noch mit wirksamen Drogen versorgen konnte, blühte der mittlerweile völlig entgrenzte Größenwahn Hitlers immer wieder auf. Wir werden dabei Zeuge, wie im implodierenden Epizentrum des deutschen Macht-Wahnsinns, das Leid vom Millionen Menschen bis zum Schluss zusätzlich potenziert wurde. Für den therapeutischen und medizinisch interessierten Leser ist dieses Buch schon deswegen reizvoll, weil mit Hilfe von Morells Aufzeichnungen über einen so langen Zeitraum ein intimer Einblick in diesem Prozess dokumentiert werden konnte.

Die Verwendung von Rauschmitteln und psychoaktiven Substanzen zur Kriegsführung ist geschichtlich schon seit vielen Jahrhunderten verbreitet. Viele Krieger bekamen vor Schlachten meist Kräutertränke, die schmerzunempfindlich machten, die Angst lösen sollten oder den Mut und die Aggression steigerten.

Aufputschende oder psychoaktive Substanzen spielen auch bis heute eine wichtige Rolle für Kriegsaktivitäten. Wahrscheinlich wäre es auch ohne eine Drogen-Krücke gar nicht möglich, dass Menschen andere Menschen vorsätzlich und professionell töten können, ohne dabei auf Dauer ihr Mitgefühl abzuspalten und zu Un-Menschen zu mutieren. Denn diese Abspaltung muss für ein fühlendes Wesen wie den Menschen schon enorm sein.

Fotos: © Marcus Roczen - Fotolia.com © luka_dostoevsky - Fotolia.com © Plusverde @ freeimages.com